Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 6 – Sonntag, den 6. Februar 1938, S. 1 — 3.
Zu den besuchtesten Wander- und Ausflug-Gebieten des mittleren Erzgebirges gehören die Greifensteine. Leicht erreichbar von allen Seiten, nahe an Chemnitz und einer ganzen Anzahl Mittelstädte gelegen, lockt das wundersame Felsgebilde um so mehr an, als unser Erzgebirge nicht sehr reich an solchen schroffen, mächtigen Steinschichten ist. Wie eine Sage aus längst verklungenen Zeiten, da noch die Riesen auf Erden wandelten, mutet uns das Eigenartige, ebenso Erhabene als Schöne des Greifensteines an. Die märchenhaften Riesen, von denen Großmütterlein erzählt, erstehen vor unserer lebhaften Einbildungskraft in großen Umrissen, wenn wir zu diesen Felsensäulen aufblicken, die wie von Reckenhand so sonderbar neben- und aufeinander geschichtet sind. Wie mächtige Marksteine erheben sich zwischen den alten Bergstädten Geyer, Thum und Ehrenfriedersdorf auf einer Anhöhe diese Felsen. Gern betrachtet jede der genannten Städte den Greifenstein als ihr zugehörig, obwohl Christian Lehmann in seinem „Historischen Schauplatz” schon vor zweihundert Jahren ausdrücklich sagt, daß die Felsen zur Ehrenfriedersdorfer Gerichtsbarkeit gehörten, und der Freiwald, in dem der Greifenstein liegt, seit Menschengedenken im Ehrenfriedersdorfer Gebiete zu suchen sei. Aus der Ferne gesehen, gleichen die sieben Felsen den Trümmern eines Riesenschlosses. Kein Wunder, daß die im Volke überall vorhandene Neigung zur Sagenbildung die Steine mit einem bunten Kranze von wunderlichen Geschichten umsponnen hat. In diesen Sagen ist viel von einer Ritterburg die Rede. Ist dies Singen und Sagen bloß der Wundersucht entsprossen oder hat es einen geschichtlichen Hintergrund? Nach Herzog im „Archiv für sächsische Geschichte” gab es eine Burg „Gryfenstein”. Sie wird als markgräfliches Lehen des Herrengeschlechts von Waldenburg urkundlich im Jahre 1373 erwähnt. Der Herausgeber des Historischen Schauplatzes hat den Greifenstein am 7. August 1683 bestiegen. Er gibt über seine Beobachtungen einen ausführlichen Bericht, findet Reste von altem Gemäuer, Steine, an denen noch Kalk klebt, Eisenwerk, Pfitzschepfeile, kurz allerlei Spuren einer menschlichen Wohnung. Ja, man will sogar den Zerstörer der Burg und das Jahr der Zerstörung (nämlich 1397) wissen. P. J. Rehtmeyer, der die alte Büntingsche Chronik von Braunschweig und Lüneburg neu herausgegeben hat, sagt: „Anno 1397 zog Herzog Otto der Jüngere, regierender Fürst im Lande Göttingen und an der Leine, mit Hilfe etlicher Thüringer über die Weser und vor die Hindenburg; die ward hart belagert und eingenommen und wurden daselbst vierundvierzig Straßenräuber befunden und aufgehängt. Das Schloß ward desoliert und zerrissen. Also hat man auch auf dem Greifstein gethan, und damit hat er den Schnapphähnen und Straßenräubern ein großes Schrecken eingejaget.” Haben die Schnapphähne auf unserem Greifenstein gehaust? Nach einem alten Ortsverzeichnisse in der Braunschweiger Bücherei wäre die Hindenburg in der Nähe des Harzes zu suchen; hier muß auch der nur beiläufig erwähnte Greifenstein gelegen haben. Hätte Herzog Otto der Jüngere einen so weiten Kriegszug bis zu uns herauf in das Meißner Land unternommen, so hätte dies auf alle Fälle der Chronist erwähnt. Es gibt in deutschen Landen eine ganze Anzahl Greifensteine bis hin in den Wiener Wald. Wie steht es nun mit Christian Lehmanns Wahrnehmungen? Der alte Verfasser des Historischen Schauplatzes beobachtet gut, wie unter anderm auch aus Zeichnungen des Greifensteins zu ersehen ist. Das Gemäuer, das er vorgefunden hat, kann jedoch in alten Zeiten von Bergleuten angelegt worden sein; denn sicher ist es, daß auf dem Greifensteine schon Bergbau getrieben wurde, noch ehe man das Schießpulver als Sprengmittel anwendete. Es bleibt uns nur noch Herzogs Angabe übrig. Die Herren aus dem schon längst erloschenen Hause Waldenburg, die auf Wolkenstein seßhaft waren, haben mit der Gründung der drei Bergstädte viel zu schaffen gehabt. Doch genügt Herzogs kurze Notiz noch nicht für den endgültigen Beweis, daß mit der Burg „Gryfenstein” auch unser Greifenstein gemeint sei. Verlassen wir das Gebiet der Geschichte und steigen wir die Stufen hinauf auf den einen Felsen: welch überraschender Anblick bietet sich dem staunenden Auge dar! Wir sehen südwärts den ganzen Kamm des Erzgebirges mit den wichtigsten Höhepunkten: Fichtel- und Keilberg, Scheibenberg, Auersberg, Pöhlberg, Bärenstein, Haßberg usw. Die Städte Annaberg, Scheibenberg, Schlettau und Thum liegen ganz in der Nähe und gewähren ein reizendes Bild. Mit bewaffnetem Auge sieht man das Schloß Frauenstein, die Heinzebank, die Brüderhöhe mit Eisenturm, den Marienberger Turm, die Kirche von Sayda, Oederan, Schloß Augustusburg mit Schellenberg, Schloß Sachsenburg, die Türme von Oschatz, im Norden den Rochlitzer Berg und den Collmberg bei Oschatz. Weiter westlich liegt zunächst die Doppelstadt Hohenstein-Ernstthal vor uns; über die sogenannte „Langenberger Höhe” hinweg eröffnet sich eine uns neue Aussicht nach der Gegend von Crimmitschau, die sich in nördlicher Richtung bis zum Petersberg bei Halle erstreckt. Das Kreuz auf dem gegenüberliegenden Felsen wurde von einem Arbeiter der Solbrigschen Kammgarnspinnerei in Hartha zur Erinnerung an den im heißen Kampf fürs Vaterland im Deutsch-Französischen Krieg am 2. November 1870 gefallenen Sohn des damaligen Spinnereibesitzers, Oskar Solbrig, errichtet. Am Fuße der Granitfelsen besichtigen wir die Steinbrüche, in denen der sehr harte Stein verarbeitet wird. Auch werden in der Nähe des Greifensteines sehr schöne Edelsteine: Apatitkristalle sowie Turmaline und Topase gefunden, ebenso auch der sogenannte Veilchenstein, ein von einer Alge überzogener Stein, der, wenn er angefeuchtet wird, einen veilchenartigen Wohlgeruch entwickelt. Wir lassen aus der ziemlichen Anzahl von Sagen, die sich um die Greifensteine gesponnen haben, etliche folgen und beginnen mit einer Ueberlieferung, die wohl die älteste ist, denn es hat sie der erwähnte alte Pfarrer von Scheibenberg, Magister Christian Lehmann, in seinem „Obererzgebirgischen Schauplatz” (1699 Seite 181) aufgezeichnet.
1. Der Schatz im Greifensteine.
Zwischen Geyer, Thum und Ehrenfriedersdorf liegt der sogenannte Greifenstein hoch auf einer wilden Höhe im Walde; es sind Felsen, die sich jählings bald höher, bald niedriger erheben und aussehen, als wären große Steine in einer gewissen Ordnung mit Fleiß aufeinander geschichtet; ringsherum liegen ebenfalls viele große Felsstücke mit Erde bedeckt und überraset, mit Bäumen und Sträuchern bewachsen, ganz so, wie wahrscheinlich eine vorweltliche Erdumwälzung die sonderbaren Steingruppen gestaltet hat. Den Namen sollen die Felsen daher haben, daß hier einstmals ein Greif genistet hat. Unter einem dieser Felsen ist ein offenes Loch zu sehen, in das ein Mensch ganz bequem hineinkriechen kann. Von diesem Loche erzählen alte Leute, daß vor Zeiten einst eine Magd, die sonst, wenn sie an dem Orte gegrast hat, öfters daselbst mit Namen gerufen ward, im Beinsein einer anderen Magd auf abermaliges Rufen hineingegangen sei, nachdem sie letzterer verlassen habe, sie solle ihr, wenn sie schreien werde, zu Hilfe kommen. Es hätte nun die Hineingehende einen großen Kasten mit Geld und Gold und einen Hund dabeiliegend getroffen und auf Befehl einer Stimme das Grastuch damit angefüllt. Als aber inzwischen der Eingang zur Höhle ganz enge geworden sei, und sie deshalb der andern Magd um Hilfe zugerufen habe, wäre der Hund auf sie losgesprungen und hätte alles von ihr Eingeraffte wieder aus dem Grastuche herausgescharrt; darauf sei sie voller Schrecken von der anderen herausgezogen worden, den dritten Tag nachher aber vor Furcht gestorben.
2. Die Berggeister des Greifensteins beschenken einen Wandersmann.
Es zog einst aus den Ebenen von Sachsen ein Wandersmann ins Erzgebirge, um von da hinabzusteigen in die gesegneten Auen von Böhmen. Unkundig des Gebirges, verlor er den Heerweg und betrat, nicht wissend, wohin er geraten möchte, einen stark befahrenen Kohlenweg, der nach einer Meilerstätte des Freiwaldes führte. Beim blassen Scheine des Mondes durchzog er den Wald; er durchspähte sorgsam jede Rodung und horchte leise atmend auf das Bellen der Hunde, das die Abendluft aus der Ferne herübertrug. Als er den Tönen nachzog, trat ihm plötzlich eine kleine Geistergestalt entgegen und forderte ihn auf, ihr zu folgen. Ihr Weg ging nun über Stock und Stein und fand endlich an den Felsen des Greifensteins sein Ziel. Kaum waren sie in eine daselbst befindliche Höhle eingetreten, als sich auf einmal ein ungeheures Gewölbe dem staunenden Wanderer öffnete. Seine Wände schienen von Silber, seine Tische von Gold zu sein. Aus tausend goldnen, mit Edelsteinen besetzten Leuchtern, in denen die Strahlen der Lichter sich unzählige Male brechen, strömte ein überirdischer Glanz über das ganze Gewölbe. An einer langen, köstlich besetzten Tafel saßen ehrwürdige Männer, die sich an den aufgetragenen Speisen sättigten. Ein Diener lud den Fremdling ein, sich zu setzen, und ein anderer brachte ihm schon, während jener noch sprach, Speisen von der Tafel. Sowie der Wanderer davon genoß, ward er zusehends erquickt und war fröhlich und guten Mutes. Die ehrwürdigen Berggeister aber freuten sich sichtlich über ihn und befahlen den Dienern, ihm den Reisesack zu füllen, den er bei sich hatte. Mit herzlichem Danke schied er darauf von seinen Wirten. Als er aber nach einer ungeduldig durchwachten Nacht bei den ersten Strahlen der Morgensonne den Sack auftat, blitzten ihm die Goldgeschirre und Edelsteine entgegen, deren Glanz ihn schon im Gewölbe in Erstaunen gesetzt hatte. Die gütigen Berggeister hatten ihn hart an die Straße gebracht, auf der er fröhlich gen Böhmen zog. Später siedelte er sich unweit des Freiwaldes an und lebte im ruhigen Genusse seines Reichtums bis in ein spätes Alter. (Erzgebirgischer Bote, Zwickau 1890.)
Nach der Sammlung „Sachsens Volkssagen” (1837) von Zienert hieß der Wanderer „Jahn”. Er baute in der Gegend des Freiwaldes bei Thum etliche Häuser, die er armen Leuten ohne Mietzins überließ, und tat auch sonst allerlei Gutes an Kranken und Armen. Als sich später die Zahl dieser Häuser vermehrte und ein ganzes Dorf daraus entstand, wurde es zum Andenken Jahnsbach genannt. (Nach Gräßes Sagenschatz.)
3. Der Schatz auf dem Greifenstein sommert sich.
Eines Tages gingen zwei Mägde durch den Wald, in dem der Greifenstein liegt; sie hatten Streu gesammelt und trugen sie in ihren Tragkörben nach Hause. Als sie nun auf einem schmalen Wege von der Höhe abwärts stiegen, sahen sie an den Zweigen der Fichten zu beiden Seiten Strohhalme hängen. Darüber wunderten sie sich; es sah nämlich aus, als ob von einem mit Stroh beladenen Wagen durch die zum Teil über den Weg hängenden Zweige einzelne Halme losgerissen worden seien, wie man solches ja häufig an den mit Bäumen besetzten Landstraßen sieht. Als die Mädchen aber nach Hause gekommen waren und ihre Streu ausgeschüttet hatten, fanden sie darunter eitel goldene Ketten. Der Schatz des Greifensteins hatte sich in Gestalt von Strohhalmen an diesem Tage gesommert und so waren einzelne Halme in die Körbe gefallen, wo sie sich wieder in goldene Ketten verwandelt hatten. Als der früher in Ehrenfriedersdorf angestellte Förster Töpel eines Tages an dem Greifensteine vorbeiritt, hingen so viel Gras- und Strohhalme von den nahen Bäumen herab, daß er kaum hindurchreiten konnte. Dabei blieben einige Halme auf seinem Hute liegen. Als er daheim seinen Hut abnahm, fand er, daß darum eine goldene Kette gewunden war. Es soll noch ein Stück dieser Kette vorhanden sein. (Moritz Spieß, Aberglaube usw. 1862.)
4. Die Geyerschen Stadtpfeifer werden vom Greifenstein beschenkt.
Einst hatten die Geyerschen Stadtpfeifer den Tanzenden im Thumer Rathaussaale bis tief in die Nacht hinein aufgespielt. Nachdem der Reigen beendet war, traten sie den Heimweg über den Greifenstein an. Als sie in die Nähe der alten Felsen kamen, schien es ihnen, als ob dieselben in einem besonderen Lichte erglänzten. Ein Spielmann machte den Vorschlag, zu Ehren des Greifensteins eine muntere Weise zu blasen. Wie gesagt, so getan. Beim Abstieg nach Geyer sahen die Stadtpfeifer beim Scheine des Mondes große Zinnstufen am Wege liegen; sie meinten, der letzte heftige Gewitterregen habe sie ausgewaschen. Ohne Säumen hoben sie die Stufen auf und steckten sie in ihren Rucksack. Als die Frauen und die Kinder am andern Morgen die Rucksäcke nach einem Wurstzipfel oder sonst einer Gabe durchsuchten, wurden sie die Stufen gewahr und brachten sie dem Schmelzmeister. Der erkannte sie als reines Silber und lohnte die Frauen reichlich. Nutzen soll aber die reiche Spende des Greifensteins den Stadtpfeifern nicht gebracht haben; es wird erzählt, es sei alles wieder durch die Musikantenkehle geflossen. (Nach Hermann Lungwitz.)
5. Der Berggeist vom Greifenstein steht Pate.
Einst lebte in Geyer ein Häuer namens Hans Geißler. Der war blutarm und hatte ein Weib, die war guter Hoffnung, und viele Kinder. Er wußte sich oftmals keinen Bissen Brot. Am größten aber war seine Not am Jahresabend, als die Niederkunft seines Weibes auf wenige Stunden nahe war, und er weder eine warme Stube, noch eine Erquickung, ja nicht einmal eine Wehmutter für sie hatte. Er eilte hinaus, eine erfahrene Muhme zu holen, verirrte sich aber bei dem gräßlichen Schneegestöber vom Wege und kam, durch tiefe Wehen sich mühsam durcharbeitend, zuletzt an die Felsenschichten des Greifensteins. Er erschrak und wollte umkehren, als der Berggeist ihm erschien und mit freundlichem Blick ihn also ansprach: „Eile, glücklicher Vater! Gott hat dein Weib mit drei holden Knäblein gesegnet. Wenn Du nicht dawider bist, will ich dein Gevatter sein.” Da verließ Hansen die Furcht und er antwortete: „In Gottes Namen magst du mein Gevatter sein, aber wie tue ich dir die Stunde der Taufweihe kund?” Als nun der Berggeist lächelnd sagte, daß er ohnedem zur rechten Zeit kommen werde, da verließ sich Hans darauf und eilte heim. Sein Weib hatte ihm wirklich drei holde Knaben geboren. Als am anderen Tage alles zur Taufe bereitet war, da ließ auch der Gevattermann vom Greifenstein nicht auf sich warten. Er erschien in Häuerkleidung und übte das fromme Werk mit inniger Andacht aus. Als die heilige Handlung vorüber war, da schenkte er Hansen einen Schlägel und ein Eisen (das übliche bergmännische Handwerkszeug) und sprach: „Lieber Gevatter, bete und arbeite! Wo du mit diesem Gezäh (Werkzeug) einschlägst, da wirst du reiche Ausbeute finden. Dann denke allemal an Gott und deinen Gevattersmann!” Darauf verschwand er. Seine Worte aber trafen ein. Hans ward ein reicher Mann und soll die Siebenhöfe bei Geyer gebaut haben. (Nach Zienert, „Sachsens Volkssagen”, 1837, Bd. 3.)
Nach Hermann Lungwitz (in Geyer †) und H. v. Annaberg.